SANDRA VI / ETERNAL PUBERTY 2013

according to a TV-performance of Sandra 'Maria Magdalena', 1986
mirrorfoil, acrylics on forex, 240cm x 170cm, musicvideo, HD-Loop 3'48''

en / de
Nicole Hoesli (*1980 in Baden, lebt in Zürich) ist die Preisträgerin des Fokus-Preises, der 2012 vom Glarner Kunstverein vergeben wurde. Die Künstlerin mit Glarner Wurzeln verwandelt sich in ihren Arbeiten in Persönlichkeiten aus der Film- und Musikwelt und mimt diese in trügerischer Manier.
Mit einfachen, selbst gebastelten Filmsets stellt sie Szenen aus berühmten Filmen oder Musikvideos nach und fügt diese nahezu perfekt in die Originalfilme ein. Der Bruch ist kaum wahrnehmbar und irritiert daher umso mehr.
Nicole Hoesli geht es dabei um Identität und die Frage, wie diese durch medial konstruierte Stereotypen geprägt wird. Um solche Fragen der Imitation und Identitätskonstruktion geht es auch in der preisgekrönten Arbeit Sandra Eternal Puberty, in der sich die Künstlerin in der Art eines Star-Schnitts des Jugendmagazins Bravo aus den 1980 und 90er Jahren inszeniert.
Ausgehend von dieser Beschäftigung mit der Pop-Ikone Sandra entstanden für die diesjährige Fokus-Ausstellung im Schneelisaal neue Arbeiten. Videos, Malerei und Collagen werden in einer Rauminstallation arrangiert. In den Videoarbeiten verwandelt sich Nicole Hoesli mit aufwändiger Kostümierung, Schminke und Perücke in die Sängerin und montiert ihre eigenen Filmaufnahmen in Originalmaterial der Musikvideos zu den Songs Maria Magdalena, mit dem die Sängerin 1985 ihren Durchbruch feierte und Don’t Be Aggressive sowie in eine Interviewaufnahme mit Sandra.
Die nachgebauten Kulissen, die Nicole Hoesli für die Filmproduktion entwarf, präsentiert sie in der Ausstellung zudem als grossformatige, abstrakt-geometrische Malerei und Collage. Die schillernde Pop-Ästhetik der 80er Jahre stellt die Künstlerin mit Acryl-Malerei und Klebecollage nach und positioniert sie im Kontext der Kunst als eigenständige Werke. Erst auf den zweiten Blick wird klar, dass es sich dabei um die Kulissen für die Videos handelt.
Die Künstlerin imitiert auf diese Weise die Simulation von Parallelwelten und interessiert sich insbesondere auch für die damit zusammenhängenden Oberflächenphänomene. Sie verwischt dabei auch die Grenzen zwischen Design und Kunst, kulissenhaftem Fake und handwerklichem Artefakt. Als besonderes Stilmittel der Kunst der 80er Jahre, ist der „Fake“, die bewusste Kopie, ein Konzept, das Originalität, Authentizität und Wirklichkeitsbezug insgesamt in Frage stellt.
Bei ihren „Selbstporträts“ in anderer Person geht es Nicole Hoesli schliesslich auch um die Ambivalenzen von Starexistenzen sowie die Stereotypen von Teenage-Posen und Selbstinszenierungen, wie sie immer wieder auch in Casting-Shows aufgeführt werden.
Die Liedtexte mit den Worten „I could be everything that you want me to“ oder „I’ll never be Maria Magdalena“ kommentieren etwa das potentielle Scheitern dieses Rollenspiels.
Fiktion und Realität, Imitation und Authentizität spielen so auf mehreren Ebenen eine Rolle und verbinden sich im Ausstellungsraum zur doppelbödigen Bühne der Eitelkeiten.
Pressetext Fokus Nicole Hoesli
SANDRA VI / ETERNAL PUBERTY 2013

Anlehnung an TV-Performance von Sandra 'Maria Magdalena', 1986
Spiegelfolie, Acryl auf Forex, 240cm x 170cm, Musikvideo, HD-Loop 3'48''
en / de
Nicole Hoesli (*1980 in Baden, lebt in Zürich) ist die Preisträgerin des Fokus-Preises, der 2012 vom Glarner Kunstverein vergeben wurde. Die Künstlerin mit Glarner Wurzeln verwandelt sich in ihren Arbeiten in Persönlichkeiten aus der Film- und Musikwelt und mimt diese in trügerischer Manier.
Mit einfachen, selbst gebastelten Filmsets stellt sie Szenen aus berühmten Filmen oder Musikvideos nach und fügt diese nahezu perfekt in die Originalfilme ein. Der Bruch ist kaum wahrnehmbar und irritiert daher umso mehr.
Nicole Hoesli geht es dabei um Identität und die Frage, wie diese durch medial konstruierte Stereotypen geprägt wird.
Um solche Fragen der Imitation und Identitätskonstruktion geht es auch in der preisgekrönten Arbeit Sandra Eternal Puberty, in der sich die Künstlerin in der Art eines Star-Schnitts des Jugendmagazins Bravo aus den 1980 und 90er Jahren inszeniert.
Ausgehend von dieser Beschäftigung mit der Pop-Ikone Sandra entstanden für die diesjährige Fokus-Ausstellung im Schneelisaal neue Arbeiten. Videos, Malerei und Collagen werden in einer Rauminstallation arrangiert.
In den Videoarbeiten verwandelt sich Nicole Hoesli mit aufwändiger Kostümierung, Schminke und Perücke in die Sängerin und montiert ihre eigenen Filmaufnahmen in Originalmaterial der Musikvideos zu den Songs Maria Magdalena, mit dem die Sängerin 1985 ihren Durchbruch feierte und Don’t Be Aggressive sowie in eine Interviewaufnahme mit Sandra.
Die nachgebauten Kulissen, die Nicole Hoesli für die Filmproduktion entwarf, präsentiert sie in der Ausstellung zudem als grossformatige, abstrakt-geometrische Malerei und Collage. Die schillernde Pop-Ästhetik der 80er Jahre stellt die Künstlerin mit Acryl-Malerei und Klebecollage nach und positioniert sie im Kontext der Kunst als eigenständige Werke. Erst auf den zweiten Blick wird klar, dass es sich dabei um die Kulissen für die Videos handelt.
Die Künstlerin imitiert auf diese Weise die Simulation von Parallelwelten und interessiert sich insbesondere auch für die damit zusammenhängenden Oberflächenphänomene. Sie verwischt dabei auch die Grenzen zwischen Design und Kunst, kulissenhaftem Fake und handwerklichem Artefakt. Als besonderes Stilmittel der Kunst der 80er Jahre, ist der „Fake“,
die bewusste Kopie, ein Konzept, das Originalität, Authentizität und Wirklichkeitsbezug insgesamt in Frage stellt.
Bei ihren „Selbstporträts“ in anderer Person geht es Nicole Hoesli schliesslich auch um die Ambivalenzen von Starexistenzen sowie die Stereotypen von Teenage-Posen und Selbstinszenierungen, wie sie immer wieder auch in Casting-Shows aufgeführt werden.
Die Liedtexte mit den Worten „I could be everything that you want me to“ oder „I’ll never be Maria Magdalena“ kommentieren etwa das potentielle Scheitern dieses Rollenspiels.
Fiktion und Realität, Imitation und Authentizität spielen so auf mehreren Ebenen eine Rolle und verbinden sich im Ausstellungsraum zur doppelbödigen Bühne der Eitelkeiten.
Pressetext Fokus Nicole Hoesli
exhibition text
Kunsthaus Glarus, 17. Januar 2014
Gedanken zu einem Podiumsgespräch


„Das Auge zu täuschen hat innerhalb der echten Kunst keinen Wert: die Illusion, welche ein wahres Kunstwerk hervorruft, beruht nicht darauf, dass sie uns auf Kosten der Wirklichkeit über die Natur der Dinge oder der Sinneseindrücke irreführe, sondern sie will uns im Gegenteil so tief in eine neue Schauweise mit sich ziehen, dass diese Schauweise unsere eigene zu werden scheint.“
Adolphe Appia zu Wagners Illusionsbühne

Was geschieht?
Die Ausstellung befindet sich im Parterre, im sogenannten Scheelisaal. Beim Eintritt ist Musik zu hören, die offensichtlich zu einem in der drei in der hinteren Ecke hängenden Bildschirme gehört. Der Raum insgesamt erstaunlich leer. Vielleicht hatte ich Kulissenteile erwartet, oder ein ganzes Filmset. Nichts davon. Drei große Bilder links, die drei Fernsehbildschirme hinten rechts. Ich gehe durch den Saal zu dem lauten Video, lese die Titel Sandra V, Sandra VI und Sandra VII. Ich verfolge eines der Videos und finde nichts Besonderes daran. Eine Popsängerin, wie wir sie zuhauf schon seit MTV oder VIVA oder neueren Musiksendern kennen. Marketing? Auffallend vielleicht die Unschärfen bei Sandra V, oder die unterschiedliche Bildqualität bei Sandra VI, oder auch die an wenigen Stellen bemerkbare leicht verschobene Synchronisierung bei Sandra VII. Ich höre und sehe der Sängerin zu. Auf zwei der drei Loops singt sie, auf dem letzten stellt sie sich den Fragen eines TV Moderators und verteidigt die englische Sprache der Lieder.
Dann erst widme ich mich den großen Gemälden, die mit recht einfachen Linien und Konturen eine gewisse Plakativität erzeugen. Die Farben eher dumpf und dennoch markant. Eines davon, das mittlere, hat mittendrin eine große Spiegelfolie, so dass sich der Betrachter reflektiert sieht. Ich zücke mein neues Smartphone und fotografiere mich als Betrachter. Jetzt erst fällt mir auf, dass die drei Gemälde in direkter Korrespondenz zu den drei Videos stehen. Natürlich, sie bilden den Hintergrund der Clips. Und erst jetzt realisiere ich, dass die Popsängerin gar nicht jene Sandra ist, die ich zu sehen glaubte. Die Gemälde bildeten die Kulissen oder Teile davon zu den Aufnahmen, auf denen die Künstlerin Nicole Hoesli die Sängerin Sandra gewordenen ist. Das loopende Original ist mit der echten Aufnahmen nur scheinbar identisch.

Was ist geschehen?
Eine bildende Künstlerin verwandelt sich bis zur Kenntlichkeit in eine andere. Die virtuelle Eins-Werdung mit einer bekannten Vorlage, also das Zusammengehen und Zusammen-SEIN des Virtuellen mit dem Realen, eine Behauptung von Wirklichkeit, die tatsächlich „nur“ die täuschend echte Kopie einer scheinbar vertrauten Vorlage darstellt. Was ich allzu voreilig zu Sehen –im Sinne von Erkennen– geglaubt hatte, wurde hintergangen. Das war gar nicht Sandra, das war Nicole. Aber wer ist Sandra und wer ist Nicole? Spielt das überhaupt eine Rolle? Und endlich wurde mir die kurze Erfahrung zwischen zwei Glarus Express Zügen deutlich: Hier hing ein Spiel mit Identität. Der Spiegel war an der richtigen Stelle, das Foto vielleicht nicht unerwünscht. Aber, was genau bedeutet hier Identität?
Die Künstlerin Nicole Hoesli spielt mit der Diskrepanz zwischen einem Wahrnehmungsphänomenen und seinen Darstellungswirklichkeiten. Über ihr echtes Spiel einer „falschen“ Rolle wurde mir einmal mehr unser aller permanentes Darstellen verdeutlicht. Natürlich spielen wir, immer. Wir spielen uns, jeder seine Rolle. Nicht nur als Popstar, auch als Verwalter oder Pizzabäcker, als Mutter oder Lateinstudentin etc. Jedes Leben ist eine Bühne. Über die feinen und zuweilen eklatanten Unterschiede zwischen dem, was wir zu sein oder zu erscheinen glauben und dem, wie wir wahr genommen werden, weiss jede/r sein eigenes Lied zu singen. Nicole Hoesli wählt den erkennbaren, durch-schaubaren Weg, einen ungewohnt direkten, vielleicht eben dadurch nicht sofort erkennbaren Clip der Vor-Bilder. Sie approbiert die Wahrnehmung und Erfahrbarkeit des Selbst im Anderen. Das ist gewissermaßen ihr eigener, ganz gezielt gewählter postmoderner Beichtstuhl.


Was bisher geschah
Es gibt eine ganze Reihe weiterer Arbeiten von Nicole Hoesli, die ich mir daraufhin im Internet angesehen habe.
Ich wähle ein Beispiel, die Arbeit „PARIS, TEXAS“ von 2011: Hoesli nennt den Clip „according“ zu Wim Wenders Film von 1984, so wie „JOHNNY GUITAR“ zu Nicolas Ray’s Film von 1954 oder „VERTIGO“ zu Alfred Hitchcocks Film von 1958. Gemeinsam ist den Vorlagen, dass alle drei als Meisterwerke in die Geschichte des Films eingegangen sind. Bewegte und bewegende Vor-Bilder. Beeindruckende und bewunderte Meilensteine der Filmgeschichte. Sie schaffen Identifikation, indem sie den Zuschauer/die Zuschauerin in ihren Bann ziehen, ihre Geschichten werden beim Betrachten Teil unserer Imagination, Teil unseres Möglichkeitsraums. Jean-Luc Godard spricht in einem Interview vor laufender Kamera, bei der der Interviewer Wim Wenders nicht zugegen war, von den Filmen, die jeder für sich produziert: „Filme entstehen, wenn niemand zuschaut. Sie sind das Unsichtbare. Was man nicht sieht, ist das Unglaubliche – beim Kino geht es darum, dies zu zeigen. Ich sitze hier vor der Kamera, aber in Wirklichkeit, in meinem Kopf, bin ich hinter ihr. Meine Welt ist das Imaginäre, und das ist eine Reise zwischen vorn und hinten, hin und her.“

Was immer geschieht
Wir leben die Fiktion mit. ‚Wie gern wäre ich doch dieser oder jene’, aber auch: ‚Gott sei Dank bin ich nicht in dieser ausweglosen Situation’ etc. Gute Filme, darin mit gelungenen Theateraufführungen vergleichbar, gehen uns durch Kopf und Bauch. Diese Filme faszinieren, vereinnahmen, beunruhigen und schaffen das, was jede gute Kunst zu schaffen versucht: Konditionierung des Denkbaren, Erweiterung des Bekannten, Befragung des Vertrauten und Sondierungen des Erfahrungshorizontes.
Das sah schon Aristoteles ähnlich, der erste und noch immer einflussreichste aller Kunsttheoretiker. In seiner Dramentheorie verlangt er für das Theater „Lieber das unwahre aber mögliche als das unwahrscheinliche Wahre“. Das Wecken der Leidenschaften über Schauder (phobos) und Jammer (eleos) oder Furcht und Mitleid, wie Lessing es später von übersetzen wird – ...

Was in Paris, Texas geschieht
„Paris, Texas“ kann keine zufällige Wahl sein. Es ist einer der vollkommensten Filme von Wim Wenders, ein modernes Märchen. In der Schlüsselszene gegen Ende des Filmes, als Travis (gespielt von Harry Dean Stanton) und Jane (Nastassja Kinski) sich nach Jahren der Trennung wieder begegnen, ist die Gegenüberstellung eine zuerst einseitige, dann eine gewissermaßen nullseitige, also blinde. Travis findet Jane in einer „Coffee Shop Booth“, einer Peep Show Kabine (John Lurie spielt den Rausschmeißer) mit halbdurchlässigem Spiegelglas. Er könnte sie sehen, sie ihn als Kunden („Freier“) nicht. Aber er wendet sich ab und erzählt in Richtung der Kamera, also dem Zuschauer die Geschichte. Er erzählt uns und der Frau im Hintergrund eine lange Geschichte, die, wie sich allmählich herausstellt, ihre Geschichte ist und die ihres gemeinsamen Sohnes Hunter. Der Jäger ist auch hier der Gejagte, Hunter die Beute, die nicht gesucht und doch gefunden, sprich seiner wirklichen Mutter zugeführt wird. Travis’ Erzählung ist ein doppelter Monolog der zwei sich ehemals nahe stehenden Personen, seine Projektion vor dem Fenster, seine Bilder sind aus beider Erinnerung gespeist. Sein Rückblick und die Nacktheit der Frau werden durch eine Blöße der Erzählung ersetzt. Beide erkennen sich „blind“. Und erst, als Jane ganz an das gespiegelte Glas geht und ihr Zimmerlicht ausmacht, kann sie das Gegenüber, ihre ehemalige Liebe erkennen. Erst die Dunkelheit enthüllt die volle Wahrheit. In diesem Moment der Wahrwerdung setzt Wim Wenders mit seinem Kameramann Robby Müller das Gesicht des Boten Travis in die blonden Umrisse der Erkennenden Jane, aus den beiden wird eine einzelne Figur. Das trennende Glas wird zur Projektionsfläche, zur Leinwand des Sehens und Erkennens. Nun erst ist Jane auch bereit, ihre Vergangenheit zu akzeptieren und wird wenig später ihren Sohn im Hotel aufsuchen, im Room 1520.
Nachdem Wenders sich als Theaterregisseur mit der monogamen Perspektive des Publikums versucht hatte, (Peter Handkes „Über die Dörfer“ an den Salzburger Festspielen) fand er mit „Paris Texas“ zu den Mythen des Kinos zurück. Der Film wurde zu einem der größten Erfolge des europäischen Kinos. Nicole Hoesli nun greift endlich zur Übersetzung eines der Schlüsselmomente auf die museale Installation. Sie installiert unser Auge. Der Einwegspiegel der Peep Show Kabine wird zum Beichtstuhl der gescheiterten Familie und sie darin zur Jederfrau. Die Möglichkeit der Selbsterkenntnis im Darstellen des Vergangenen oder hier des identifizierbaren Anderen wirkt bestechend, weil sich die angebliche Echtheit keine Blöße gibt. Hoesli übernimmt, mehr noch sie vereinnahmt den psychologischen Realismus von Nastassja Kinski, in diesen Jahren Studentin schauspielerischer Methoden der emotionalen Erinnerung von Lee Strasberg. Hoesli identifiziert Jane „by doing“. Sie macht uns glauben, jene zu sein, die durch Kinskis Darstellungskunst eben noch als einzigartig in die Geschichte des Films eingeschrieben wurde.
Auch das keine neue Wahrheit. Wir glauben lieber, was wir sehen, und sei es och so unmöglich, als das „unglaubwürdig Mögliche.“

Was gesehen wird
„Das Nachahmen selbst ist den Menschen angeboren – es zeigt sich von Kindheit an, und der Mensch unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen, dass er in besonderem Maße zur Nachahmung befähigt ist und seine ersten Kenntnisse durch Nachahmung erwirbt.“ Wir sind, was wir in unseren lebenslangen Übungen der Nachahmung geworden sind.
Just hier steigt Nicole Hoesli ein, im wahrsten Sinne des Wortes. Sie steigt die Kulisse, in die 24-fache Wahrheit pro Sekunde und manipuliert diese zu ihren Gunsten, und damit, dass sie den Vorgang erkennbar macht, auch zu unseren. Was wäre, wenn ich hinter dem blinden, einseitigen Spiegel säße. Sollte ich dann den Pulli heben? Andere Antworten geben, als Nastassja Kinski? Was ist, wenn der Möglichkeitsraum real wird? Wie real ist überhaupt mein Möglichkeitsraum? Sind wir nicht alle Kopisten?

„Ebenso wie Hitchcock haben es auch Bresson, Rossellini, Welles und Renoir mit grossem Erfolg verstanden, die scheinbar gegensätzlichen Vorzüge der allegorischen und der dokumentarischen Form (...) für ihre Zwecke zu nutzen. Die konkrete Realität liefert der erfundenen Geschichte das Fleisch, ohne das sie nur ein intellektueller Zeitvertreib wäre. (...) Selbst wenn The Wrong Man nichts anderes als die getreue Schilderung eines „wahren Kriminalfalls“ wäre, verdiente er bereits unsere ganze Bewunderung.“ (S. 222f) Nicole Hoesli dreht den Spiess einfach um: Der Thriller wird zum Realen, sie setzt sich mitten rein in die (re-)konstruierte Realität des Fiktiven, das Konstrukt wird erkennbar. Oder, wie Eric Rohmer und Claude Chabrol in ihrem wunderbaren Buch über Hitchcock geschrieben haben: „Das entscheidende Element (...) ist die Gleichzeitigkeit dieser beiden Tatsachen, das ständige Vermengen zweier stilistischer Genres, nämlich des Realen und des Thrillers“ (S. 143)

Letzte Frage: Warum aus dem Vergangenen zitieren, sogar kopieren. Ist das originell?
Alfred Hitchcock hat einmal gesagt: „Besser, in den Truhen von vorgestern zu wühlen, als in den Abfalleimern von gestern.“ (Hitchcock, S. 202) . Nicole Hoesli spielt uns unser Spiel vor, indem sie Leben zur Bühnenästhetik stilisiert. Aristoteles’ aisthesis sensualis wird zur individuellen Projektionsmauer, jedem sein Spiegel, durch den er/sie sich vom Publikum absondert. Der individuelle Vorhang braucht gar nicht weiter aufgezogen zu werden, wir denken uns unser Teil. Das ist Ich – Simulation. Was sagt Ihr Spiegel. Es ist immer der andre der herausblickt. Ihn suchen wir, wenn wir uns durch die fremden Leiber wühlen, weg von uns. (Heiner Müller, Quartett)

Anton Rey, 15.1.2014.